Zwingende Befragungen im Berufungsverfahren
Ich vertrete derzeit zwei Mandanten in jeweils unterschiedlichen Strafverfahren, bei denen gewisse Parallelen zu entdecken sind. Dem einen wird unter anderem eine versuchte Tötung vorgeworfen, dem anderen eine sexuelle Nötigung. Nach Verurteilungen durch die erstinstanzlichen Gerichte habe ich für beide Mandanten jeweils Berufung eingereicht. In beiden Fällen hat die zweite Instanz die Schuldsprüche bestätigt, es jedoch unterlassen die Beschuldigten (erneut) zur Sache zu befragen. Ausserdem wurden die Opfer in beiden Fällen nicht befragt. Im einen Fall wurde das Opfer nicht einmal durch das erstinstanzliche Gericht befragt. Mit anderen Worten erfolgte diese Verurteilung rein auf dem Studium von Akten, obwohl es sich um eine „Aussage-gegen-Aussage“-Situation handelte. Wer schon einmal eine Befragung miterlebt hat, weiss, dass ein Protokoll den persönlichen Eindruck nicht zu ersetzen vermag.
In beiden Fällen habe ich für meine Mandanten jeweils eine Beschwerde beim Bundesgericht eingereicht. Das Bundesgericht hat beide Beschwerden gutgeheissen (vgl. Urteil vom 20. März 2018 sowie Urteil vom 26. März 2018). Das Bundesgericht hat klar festgehalten, dass auch im Berufungsverfahren zwingend eine Befragung des Beschuldigten zu erfolgen hat. Der Umfang der Befragungen hängt dabei von den bisher bereits erfolgten Befragungen ab. Auch wichtige Zeugen bzw. Auskunftspersonen sind je nach Umständen erneut zu befragen. Damit stellt das Bundesgericht klar, dass das Berufungsverfahren nicht ein eingeschränktes Rechtsmittelverfahren ist, in welchem nur allfällige „Fehler“ der Vorinstanz korrigiert werden können. Das zweitinstanzliche Gericht hat sich eine eigene Meinung zu bilden. Dazu gehören auch gewisse elementare Befragungen.
Es bleibt nun abzuwarten, wie das zweitinstanzliche Gericht in den beiden Fällen entscheiden wird.